ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST

curt Magazin, Oktober 2017

 

Die Nürnberger Künstlerin Andrea Sohler, deren Medium ausschließlich die Fotografie ist, präsentiert sich derzeit mit ihrer sehenswerten Einzelschau mit dem Titel »nüber« im Kunstverein Kohlenhof. Die dichte und zugleich wunderbar luftig gehängte Ausstellung zeigt Einzelmotive und eine Reihe von Serien.
Andrea Sohlers Interesse gilt all den Dingen, die wir täglich sehen, aber nicht wirklich wahrnehmen: Farbtropfen an der Wand, eine Holzmaserung, Raumkanten, Kissenfaltungen, Wasserspuren an einer Hausfassade, ein Stück Wand, ein zerbrochener Straßenspiegel, Graffiti, Pfützen, Flecken, Kratzer. Es sind Spuren aller Art, die der Zufall, die Natur, der Passant meist absichtslos in ihrem Umfeld hinterlassen, ohne sich der ästhetischen und narrativen Wirkmacht bewusst zu sein, die in ihnen schlummert. Andrea Sohler macht sie sichtbar. Dazu muss sie keine Bilder erfinden. Sie findet sie. Und sie muss die Motive nicht inszenieren. Das erledigen sie selbst. Allerdings bedarf es des künstlerischen Blicks und Könnens, im Banalen, Alltäglichen und sogar Schäbigen das Erzählenswerte und Schöne zu erkennen und es so abzulichten, dass ein autonomes Bild mit einer Geschichte entsteht, die nicht nur schön und humorvoll sein kann, sondern auch etwas über die Welt und uns selbst erzählt.
Hierbei spielen die Titel eine wesentliche Rolle, da sie das Bild, oder genauer dessen Geschichte erst vollständig machen. Das Foto eines zerbrochenen Straßenspiegels trägt etwa den Titel »Australien/Rumänien?«. Und tatsächlich lässt die Fläche innerhalb der zerstörten Scheibe an die Umrisse besagter Länder denken. In der Holzmaserung mit dem Titel »Face« ist plötzlich ein Gesicht zu erkennen, hinter dem  allerdings eine eher bedauernswerte Figur zu vermuten ist. In der durchaus mit einer Prise Selbstironie gewürzten Serie »ich wär’ so gerne femme fatale (13 Bagatellen)« offenbart die Künstlerin, welch erotisches Potenzial in einer Zimmerecke oder Kissenfalte stecken kann, die laut Titel plötzlich zum »Schoß« oder »Popo« werden. Es ist jeweils der Ausschnitt und der Winkel, den die Künstlerin für diese Bagatellen wählt, und es ist die spezifische Farbigkeit des Filmmaterials, das sie gezielt ausnutzt, um das Andere, Neue sichtbar zu machen. Etwas, das dem Betrachter am Ende immer auch eine Lektion in Sachen Sehen erteilt und darüber, wie anfällig er zugleich für Täuschungen ist. Andrea Sohler nimmt sich da selbst nicht aus. Als würde sie dem eigenen Blick und dem, was sie hinter der Oberfläche der Dinge ausmacht, nicht ganz trauen, hat sie einer weiteren Serie den Titel »Sehen vergeht« gegeben. Das Foto daraus mit dem Titel »Fresko« zeigt eine Wand mit Malspuren in einem Treppenhaus: Es wird unter der Sohler‘schen Hand zu einem zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion changierenden Bild von malerischer Wirkung.
Menschen tauchen in den Fotografien nicht auf, doch sind sie immer anwesend, und zwar durch den von ihnen bewusst oder unbewusst gestalteten oder auch  verunstalteten Raum. In ihrer täglichen Umgebung, dem urbanen Raum sowie in fremdem oder in den eigenen vier Wänden findet Andrea Sohler das Material für ihre Kunst. Es ist ein Kosmos, der Geschichten über die Spezies Mensch bereithält – meist solche, in denen die Künstlerin das unfreiwillig Komische, das Tragikomische und Skurrile an uns und unserem Treiben ausfindig macht.

© Text: Natalie de Ligt, erschienen im curt Magazin 10/2017