Anti-Überwältigungsstrategie - Andrea Sohler und ihre Ausstellung „nűber“
Eine Möglichkeit, eine Rede zu beginnen, ist, mit einem Zitat einzusteigen. Ein prominentes und gleichzeitig ausgefallenes Zitat gibt eine gewisse Fallhöhe vor. Wie auch immer sich ein Redner auf das Zitat bezieht, das hoffentlich passgenaue Zitat soll die Zuhörer einnehmen, mehr oder weniger überwältigen. Damit sie (SIE), die Zuhörer, im Verlauf der Rede gespannt bleiben.
Als ich über die Fotografien von Andrea Sohler nachgedacht habe, Fotoarbeiten, die ich sehr mag, erschien mir nichts unpassender, als irgendeine Form der Überwältigung. Eine Rede, die zu diesen Arbeiten passt, sollte nicht versuchen, irgendjemanden durch Überwältigung zu beeindrucken. Es müsste eine Ansprache mit einfachen Worten sein. Deshalb darf sie aber nicht substanzlos sein, und sie müsste sich ihrer Schlichtheit bewusst sein. Denn gewissermaßen in diesem Geist fotografiert Andrea Sohler, die von 1989 bis 1995 in ihrer Heimat Ungarn an der Hochschule für Angewandte Künste in Budapest ein Meisterdiplom bei dem Pulitzerpreisträger Imre Benkö erworben hat und von 2000 bis 2005 in Nürnberg an der Akademie bei Ottmar Hörl studierte und Meisterschülerin wurde: Schlichtheit mit Substanz.
Andrea Sohler präsentiert zumeist Serien mit einem Motto, während die einzelne Arbeit darüber hinaus einen eigenen Titel trägt. Die Serien sind regelrechte Assoziationsketten, die das Motto umspielen und ausleuchten. Hier finden wir die Serien u.a. „ich wär` so gerne femme fatale“ und „sehen vergeht“, „Fuge“ und „Komfort-Zone“. Und als Trennungselemente zwei Beispiele der Serie „Selfies“, die Fotos „Huhu“ oder „pole“. Der Titel, den Sohler der Schau gegeben hat, überrascht sicher die meisten. Es ist die Dialektform von hinüber, auf fränkisch-nürnbergisch: nűber. Also nicht nur Schlichtheit mit Substanz, sondern auch Bodenständigkeit mit Weitblick.
Die Dialektform des Adverbs, das nach drüben, von irgendwo hin nach einer anderen Seite hin bedeutet, gefällt ihr, weil es sie an Laute ihrer Muttersprache erinnert. Aber es fallen mir auch sofort Wendungen ein, wie man sie vor 1989 benutzte: Da hatte jemand aus dem Osten rübergemacht (mit einer kleinen Phonemverschiebung), oder es hieß harsch und als Rauswurf gedacht, geh doch nüber.
Andrea Sohler beschäftigt sich lange genug mit Fotografie, dass sie weiß, dass die Annahme falsch ist, ihr Medium und alle damit verwandten Medien wie Film und Fernsehen würden im Gegensatz zu anderen bildnerischen Medien die meiste, bzw. die größtmögliche Wahrheit über das Visuelle erzählen. Für ihren Lehrer in Budapest, Imre Benkö, wird das vielleicht gegolten haben. Mit spürbarer Sympathie spricht sie von ihm und dieser älteren, inzwischen klassischen Richtung der Fotografie. Es ist ein großer Vorteil, dass sie diese Schule aus praktischer Anschauung heraus kennt. Und man darf sich diese Fotografie (verallgemeinernd gesagt die Magnum-Fotografie) als Folie vorstellen, vor der sie ihre Arbeiten ausbreitet. Andrea Sohler zeigt auf den ersten Blick sehr unspektakuläre Szenen: Ihrer Kronen beraubte Bäume, Häuserwände mit Schriftspuren, gespachtelten Löchern oder banalen tags, Schattenspiele, Reifenspuren im Schnee, Papierfetzen auf dem Trottoir, eine Raumecke. Damit stiftet sie Verwirrung.
Aus ihrem Erfahrungswissen heraus hat sich die Künstlerin verabschiedet von der sozialen Fotografie, von dokumentarischer Fotografie oder von der Idee einer perfekten Fotografie wie der Art Directors Photography. Im Zeichen des Pictorial Turn, der Feststellung einer in hohem Maß von Bildern statt von Sprache beherrschten Alltagskultur, was die Tatsache mit einschließt, dass die zahllosen Bilder, die von der Welt gemacht werden, das Bild der Welt verstellen, spart Andrea Sohler den Menschen aus, den noch ihr Lehrer in Budapest in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt hat. Wir fragen uns ja nicht mehr unbedingt, inwieweit ein Bild eines Menschen den Menschen charakterisiere, sondern wir fragen uns, wer wo wie welche Bilder produziert, welchem Interesse sie dienen, in welchem Kontext sie eingesetzt werden.
Als Fotografin verwendet sie Amateurfilme, deren Farbverschiebungen sie ebenso akzeptiert wie die unberechenbaren Ergebnisse ihrer Handyfotos. Das Resultat erinnert zuweilen an aus Magazinen herausgeschnittene Fotos oder Farbkopien. Sie selbst nennt die schräge Farbigkeit „schön krank“. Aber es ist eben nicht, wie man jetzt schlussfolgern könnte, Bad Photographie analog zum angesagten Bad oder Cheap Painting. Mit großer Liebe zur kleinen Form bricht sie die an sich bruchlosen Großformen möglicher Motive und arbeitet konsequent gegen jeden Hochglanz, gegen jegliche Perfektion an - eine Haltung der Dissidenz gegenüber allen Erwartungen an Artistik oder Virtuosität.
Die Stadt, die sie durchstreift, besteht bei ihr nicht aus einem Panorama, nicht aus den großen Formzusammenhängen geglückter oder misslungener Architekturensembles, wie man sie vor allem von hoch oben sieht. Sie sucht nicht die großen Dramen und Desaster, feiert aber auch nicht die Idylle. Die Kleinheit der Abzüge spricht eine deutliche Sprache! Sie bricht jede Art von besserwisserischer Vogelperspektive schon mit ihren Formaten, zeigt die kleinen oder größeren Verletzungen, Schrammen und Kratzer, Spuren der Vergänglichkeit. Ihr Narrativ ist eines der abgebrochenen Sätze, ein fragmentarisiertes. Im Englischen gibt es dafür die Wendung disrupted narrative - die gestörte, unterbrochene Erzählung. Der Mensch ist ja ständig unsichtbar anwesend, denn sie bewegt sich mit der Kamera praktisch ausschließlich in der vom Menschen gestalteten, vom ihm besetzten Umgebung. Ihre Bild-Ethik ist die Vermeidung neuer Bilder vom Menschen, die das Bild vom Menschen nur noch mehr verstellen würden. Ganz wichtig ist, dass ein regelrecht dadaistischer Witz durchbricht beim Sohler`schen Gestaltsehen. Der Eingangstür schräg gegenüber hängt ein Bild aus der Serie mit dem nicht ironiefreien Motto Komfort-Zone, das ein Stück einer Holzvertäfelung oder eines Holzschuppens zeigt. Der Titel Face sagt, was Andrea Sohler darin sieht, und was auch wir leicht in der Maserung mit ihren Ästen sehen können, ein schiefes, schielendes Gesicht. Ganz zart hingegen kommen die Motive der Serie ich wär` so gerne femme fatale daher, die sie auch als Bagatellen bezeichnet. Das Motto ist kein Wunsch der Fotografin, sondern stammt von einem sehr jungen und zarten, wohl auch zärtlich gestimmten Mädchen, dem Andrea Sohler vor ein paar Jahren begegnete. Sie fragt sich bis heute, was das Mädchen sich unter einer femme fatale vorstellte? Die Diskrepanz zwischen dem Motto und den nur dezent an erotische Motive mahnenden Fotos ist gleichsam die visualisierte Frage.
Mit ihren Titeln führt Andrea Sohler den skeptischen Betrachter an der Hand, damit er erleben kann, dass Banalitäten, Nicht-Perfektes, Entstelltes und sogar immanent Hässliches eine ebenso reiche Erfahrung und vielleicht viel poetischere Bedeutungsebene bieten können wie alles Perfekte, Großartige, allzu offensichtlich Schöne. Das gleingt, weil der Blick der Fotografin ein emphatischer ist.
Bei Andrea Sohlers Anti-Überwältigungsstrategie geht es nicht um die „selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten“, sie reißt nicht die Grenze zur „mutwilligen Unterbietung aller Erwartungen“ (Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. 2.Aufl., Berlin 2014, S. 198). Aber sie wagt sich nűber auf unübersichtliches Gelände, ihre Bild-Ethik scheint mir eine der Dissidenz aus Mitgefühl zu sein. Sie blickt unaufhörlich nűber, hinüber von ihrem persönlichen Irgendwo nach dem anderen/dem_der Anderen. Der Blick ist die erste Kontaktaufnahme, ich muss jemanden im übertragenen wie im wörtlichen Sinn sehen (anschauen), um ihn wahrzunehmen. Und der Blick ist am Ende auch die letzte Form von Kommunikation.
sehen vergeht heißt die in und für die Leipziger Spinnerei 2013 entstandene Serie mit skurrilen Relikten und sensationell subtilen Lichtstimmungen. Andrea Sohler meint mit dem Titel, dass nach allem sensorischem Handeln, wenn man Sehen und Hören so nennen will, nichts bleibt, außer den Bildern. Das erinnert stark an Christa Wolff, die in ihrem Buch „Kassandra“ am Ende sagt: „Das Letzte wird ein Bild sein, kein Wort. Vor den Bildern sterben die Wörter.“
Hans-Peter Miksch | Kunstgalerie Fürth
Auszug Eröffnungsrede Ausstellung „nűber“ im Kunstverein Kohlenhof, 9.9.2017
Andrea Sohler, die Ungaro-Nürnberger Fotografin streift durch ihre Stadt und findet Beiläufiges sowie Undinge an Nicht-Orten. Erstaunlich, welche Bildfindungen ihr in den zumeist kleinen, intimen Formaten und mit unterschiedlichen Techniken dabei gelingen. Maßgeblich für das Verständnis der immanenten Ironie der Werke sind die Titel, die sie sich zu vergeben traut und deren Bedeutungen diametral zum Sichtbaren stehen können jedoch nicht müssen. Die Poesie von Undingen zeichnet diese Arbeiten aus: Sohler untersucht subtil die Antiästhetik und Ästhetik der Stadt. Zu Hilfe kommt ihr neben ihrem guten Auge dabei der Zufall, aber auch das Selbstverständnis der Bewohner mit den Dingen und dem Stadtraum nur „irgendwie“ umzugehen. Vieles bleibt dabei auf der Strecke, von Nachhaltigkeit kann oft nur im negativen Sinne gesprochen werden. Genau diese Tatsachen und die Begegnung des Undings mit seiner Umgebung macht sich Andrea Sohler zunutze und gibt den Nebenschauplätzen und den Nebensächlichkeiten in ihren Arbeiten Form.
Barbara Leicht M.A.| Kunstmuseum Erlangen
Auszug aus der Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Unterm Himmel“
Die kleinformatigen Fotografien von Andrea Sohler zeugen von ihrem Gespür für die Dinge des Alltags und den Zufällen, denen sie ausgesetzt sind. Fast immer sind es Hinterlassenschaften aller Art oder kleine Unachtsamkeiten des Menschen, denen sich die Verursacher gar nicht bewusst sind, und die oft eine unfreiwillige Komik besitzen, – wie zum Beispiel das an einen Holztresen geklebte rosafarbene Tuch. Andrea Sohler hat einen Instinkt für solche Situationen. Sie gibt sie uns in ihren Bilder zurück, damit wir das Staunen nicht vergessen.
Natalie de Ligt | Kunstverein Nürnberg
Auszug Katalogtext Ausstellung „schöne Bescherung“
Eisskulptur, Wachsrelief, Lichtballett – kleine Markierungen oder Setzungen im Raum werden auf den Fotografien von Andrea Sohler zu pointierten minimalistischen Reportagen des Alltäglichen, die eine spröde Poesie anlaufen lassen. Einfache Beobachtungen eines ganz bestimmten Materialverhaltens und/oder Lichtverhältnisses zum Beispiel bringen so kalkuliert bildhauerische oder malerisch motiviert wirkende Setzungen hervor – oder umgekehrt...
So wird der abgebrochene Doppeleiszapfen, der seine Form durch eine Regenrinne erhalten hat, auf der Fotografie zu einem außergewöhnlichen Torso. So klebt ein Teelicht quasi kopfüber an der Wand in seinem eigenen getrockneten Wachs – aufs delikateste von seitlich oben beleuchtet und erinnert damit, in Verbindung mit dem Titel der Fotografie, an eine seltsame, doch heitere abstrakte Elfenbeinschnitzerei, die von einer Aktion zu berichten scheint. Und so konkurrieren die kleinen Lichtreflektionen – Sind es Morsezeichen? Ist es ein Sternbild mit kleinen schwarzen Löchern? – auf der Raufaser mit den banalen Spuren des Wohnens und schaffen eine minimalistische Zeichnung.
Dokumentarisch werden die Fundstücke aus der Umwelt, Momente aus Raum und Außenraum, vom Objektiv der Künstlerin eingefangen, unaufgeregt der substantielle Tatbestand gebannt und durch ungewöhnliche Perspektive etwa oder einen fokussierenden Ausschnitt verfremdet. Eine Prise Melancholie sowie Heiterkeit klingen bei angenehmem Understatement an.
Ulrike Rathjen | Kunsthistorikerin
Auszug Kunstkolumne, qm-Magazin
... Umgekehrt erkundet Andrea Sohler auf ihren Fotografien das Bildhafte als Element des Wirklichen, wobei sie den narrativen Überschuss, der dabei entsteht, mittels einer gewissen Strenge der Form kontrolliert.
Thomas Wagner | Soziologe und Autor
Katalogauszug Gruppenausstellung "oil on canvas"